1. 24auto
  2. News

Autonomes Fahren mit bis zu 120 km/h: Entwickler stehen vor Mammutaufgabe

Erstellt:

Von: Sebastian Oppenheimer

Kommentare

Das autonome Fahren auf Level 3 auf Autobahnen mit einer Geschwindigkeit bis zu 120 km/h stellt riesige Anforderungen an die Technik – und vor allem an die Entwickler.

Eigentlich ist der Weg Robo-Auto klar vorgegeben – der Grad des autonomen Fahrens ist in sechs Stufen eingeteilt. Auf Level 2 vollzieht das Fahrzeug unter klar definierten Bedingungen teilautonome Manöver, hält die Spur, bremst und beschleunigt, aber der Fahrer behält das Kommando und muss jederzeit eingreifen. Schließlich haftet er auch für etwaige Schäden. Eine ganz andere Hausnummer ist dagegen die nächste Stufe des autonomen Fahrens. Beim Level 3 agiert das Fahrzeug selbstständig und der Fahrzeughersteller steht in der Haftung, falls es zu einem Unfall kommt. Der Mensch darf sich während der Fahrt um E-Mails kümmern, Videos schauen und muss den Verkehr nicht ständig im Blick haben.

Autonomes Fahren bei 120 km/h: Entwickler stehen vor Mammutaufgabe

Schon aus diesem kurzen Überblick wird klar, welche Mammutaufgabe das autonome Fahren darstellt. Audi hatte 2018 den A8 vorgestellt, der für das Robo-Fahren Level 3 vorbereitet war. Aber es dauerte bis zu diesem Jahr, ehe Mercedes mit dem Drive Pilot ein System in das Flaggschiff S-Klasse integrieren konnte, das das beherrscht. Allerdings nur bis zu einem Tempo von 60 km/h und unter bestimmten Umständen. Letztendlich ist diese Technik ein vollautomatischer Stau-Pilot, der bei Stop-and-Go-Verkehr und somit bei vergleichsweise überschaubaren Geschwindigkeiten das Steuer in die Hand nimmt. 

Für Mirko Reuter, dem Chefentwickler autonomes Fahren beim chinesischen Autobauer Nio – der kürzlich eine 500-kW-Ultra-Schnellladesäule vorgestellt hat –, ist diese Art des automatisierten Fahrens nur ein Zwischenschritt. Die Asiaten wollen gleich mit 120 km/h beziehungsweise 130 km/h in das Robo-Auto-Geschäft einsteigen. Mercedes tüftelt ebenfalls an der Geschwindigkeitserhöhung für seinen Drive Pilot. „Das automatisierte Fahren mit Level 3, bis maximal 120 Kilometer pro Stunde, stellt deutlich größere Herausforderungen für die ADAS-Systeme dar als das bei Tempo 60 der Fall ist“, sagt Dr. Jan Becker, CEO von Apex.Ai, der sich seit 24 Jahren mit Fahrassistenzsystemen und dem autonomen Fahren beschäftigt.

Autonomes Fahren bei 120 km/h: Kombination aus Kameras, Radar- und Lidarsensoren

Wie groß der Unterschied ist, zeigt ein einfaches Beispiel, das jeder aus der Fahrschule kennt. Bei der doppelten Geschwindigkeit vervierfacht sich der Bremsweg. Genau das müssen die Sensoren leisten und eine entsprechende Distanz zuverlässig abbilden. „Aktuell braucht man für das ADAS-Level 3 eine Kombination aus Kameras, Radar- und Lidarsensoren. Lidar ist unter anderem deshalb nötig, weil die Auflösung, die Radar bietet, nicht ausreicht, aber vor allem, weil die Video-Radar-Kombination allein zu viele Failure Cases hat. Der Hauptgrund für die Kombination ist die notwendige Redundanz im Sensorset“, erklärt Jan Becker. An besseren Sensoren wird bereits getüftelt. Die sind auch für das autonome Fahren nötig. Mit Kameras allein, endet der Versuch, ein Robo-Auto auf die Straße zu bringen, unweigerlich in einer Sackgasse. Das musste auch Tesla einsehen, die trotz aller ausgeklügelten Software jetzt wieder Radarsensoren in den Autos installieren.

Eine Frau mit einem Laptop hinter dem Lenkrad in einem fahrenden Auto
Das autonome Fahren ist eine große Herausforderung für die Entwicklungsabteilungen. (Symbolbild) © Westend61/Imago

Autonomes Fahren bei 120 km/h: Sondersituationen machen es der Technik schwer

Wie umfangreich diese Aufgabe ist, wird klar, wenn man die Arbeitsweise von Radarsensoren (die bald auch den Gesundheitszustand der Fahrzeuginsassen checken sollen) genauer betrachtet. Der Radarsensor sendet Mikrowellen aus, die hauptsächlich von metallischen Oberflächen reflektiert werden. Zum Beispiel von Autos, Gullydeckeln, Schilderbrücken über der Autobahn, Tunneleinfahrten und den Leitpfosten am Rand der Fahrbahn. Um autonom unterwegs zu sein, muss das System sortieren, was was ist. Bei stockendem Verkehrsfluss beziehungsweise bis 60 km/h ist das noch machbar, da man sich in der Regel an den anderen Autos orientieren kann und die Sensoren die Bremswegentfernung im Griff haben. Braust ein Pkw selbsttätig mit 120 km/h über die Autobahn und ein Auto steht zufällig genau in einer Tunneleinfahrt oder unter einer Schilderbrücke wird die Sache schon deutlich diffiziler. Dann muss der Robo-Chauffeur eindeutig identifizieren, ob da ein Auto steht und gegebenenfalls bremsen. Und das bei dieser Geschwindigkeit früh genug.

Autonomes Fahren bei 120 km/h: Sensoren ergänzen sich gegenseitig

Für die Software-Programmierer ist die Herausforderung ebenfalls immens. Was passiert, wenn ein Sensor Alarm schlägt und ein Hindernis meldet und ein anderer nicht? „Man benötigt Rechenmodelle, die abbilden, was ein Sensor leisten kann und was nicht. Daraus lässt sich dann ableiten, ob die Meldung des Sensors plausibel ist oder nicht“, weiß Jan Becker. Zum Beispiel ist ein Lidar-Sensor in der Regel recht tief eingebaut und kann nicht „sehen“, ob die Fahrzeuge vor dem Vordermann bremsen oder nicht, da der Pkw ihm die „Sicht verstellt“. Dagegen kann eine Kamera durch die Scheiben die aufleuchtenden roten Lichter des Verkehrs erkennen und auch die Radarsensoren können zu einem gewissen Grad unter einem vorausfahrenden Fahrzeug „entlangschauen“. Also muss der Algorithmus diese Umstände bewerten und in die Entscheidung miteinbeziehen. Das bedeutet: Nur wenn jedes Rad in das nächste greift, ist ein geschmeidiges autonomes Fahren Level 3 machbar. Klar ist aber auch, dass die Herausforderungen bei 120 km/h deutlich größer sind als bei 60 km/h.

Noch mehr spannende Auto-Themen finden Sie in unserem kostenlosen Newsletter, den Sie gleich hier abonnieren können.

Autonomes Fahren bei 120 km/h: In den USA ist man schon bei Level 4 angekommen

In den USA ist man inzwischen schon bei Level 4 angekommen, aber auch da hakt es noch an den höheren Geschwindigkeiten. Cruise hat die Freigabe für autonome Level-4-Taxis für einen großen des Stadtgebiets von San Francisco erhalten, ohne menschlichen Fahrer als Rückfall-Instanz. Aber eben zunächst nur innerstädtisch – und auch hier kommt es immer wieder zu Zwischenfällen. Weitere Gebiete wie Phoenix oder Houston sollen folgen. Auch Konkurrent Waymo tüftelt bereits seit 2009 am autonomen Fahren, ist daher deutlich weiter als etwa Tesla und darf seine autonomen Flotten ebenfalls in San Francisco, Phönix und neuerdings auch in Los Angeles betreiben. (Wolfgang Gomoll/press-inform)

Auch interessant

Kommentare